Weihnachtliche Stimmung im Europa-Park und im Hotel „Colosseo“. Ein festlich geschmückter Raum mit brennenden Kerzen und gedämpftem Licht. Am Rednerpult steht Christa Lörcher. „Lebenskrisen, wie gehe ich damit um?“ ist ihr Thema. Über 60 junge und jung gebliebene Frauen und wenige Männer sind gekommen um von den Erfahrungen einer Frau zu profitieren, die so einiges erlebt hat.
Christa legt los. Sie berichtet von ihrer Kindheit, von ihrem Vater, der Pfarrer war und doch in ihren Augen nicht immer christlich handelte. Sie berichtet von Flucht und Vertreibung und ihren Schuljahren. Während ihres Studiums in Tübingen lernt sie ihren Mann Gustav Adolf kennen. 1963 wird ihre Tochter Karin geboren. „Karin war ein starkes Mädchen,“ sagt sie. Doch mit einem Jahr wird sie schwächer und schwächer, weniger und weniger. 1965 stirbt sie, gerade zweieinhalb Jahre alt, an Mukoviszidose, einer erblichen Stoffwechselkrankheit. Auch Christas Stimme schwankt, sie muss schwer schlucken und etliche im Saal auch. Christa wird Lehrerin und tritt 1970 in die SPD ein. „Wir haben lange überlegt, ob wir noch ein zweites Kind bekommen sollten,“ sagt sie, doch die Chancen auf ein gesundes Kind sind gut. 1972 wird Thomas geboren. Schon kurz nach der Geburt wissen die Eltern, dass er ebenfalls Mukoviszidose hat. Thomas muss schon als Baby intensiv gepflegt und behandelt werden. „Mama, wenn ich diese Tabletten nicht nähme, wäre ich schon tot, wie meine Schwester,“ sagt Thomas einmal zu ihr. Thomas lernt Rad fahren, Schach spielen, geht in die Schule und beginnt Tagebuch zu schreiben. Es endet fünf Tage vor seinem Tod. Thomas stirbt mit neun Jahren in den Sommerferien in Griechenland.
Christa trinkt einen Schluck Wasser und schafft es, nicht zu weinen. „Ich musste mich neu orientieren,“ sagt sie, denn als Lehrerin für Kinder kann sie nicht mehr arbeiten – zu nah ist ihr der Tod ihres Sohnes. Christa wird Altenpflegerin, arbeitet als Lehrkraft in verschiedenen Altenpflegeschulen und 1989 beginnt ihre politische Karriere, die abrupt endet. Denn Christa stellt sich gegen ihre Partei und wird zur „Abweichlerin“, das sind diejenigen, die zu ihrer Überzeugung stehen. Christa bekommt es zu spüren. Als sie am 16. November 2001 unbeirrt mit „Nein“ abstimmt und sich damit als einzige ihrer Fraktion gegen den Militäreinsatz deutscher Bundeswehrsoldaten ausspricht, ist ihr Untergang besiegelt. Am selben Tag streicht die Landesgruppe Baden-Württemberg den Namen Christa Lörcher von allen Listen. Christa ist nicht mehr da, sie ist politisch ausgelöscht, ausgeschlossen. Kein Terminkalender mehr, keine Fraktionssitzungen, interne Beratungen oder SPD-Abende mit Gleichgesinnten. Christa verliert nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre politische Heimat. Doch auch danach schafft sie es wieder, sich neu zu orientieren. Sie unterrichtet Jugendliche in einer Justizvollzugsanstalt, arbeitet in Schulen mit Jugendlichen, die keinen Abschluss haben oder keine Lehrstelle finden und hat etliche Ehrenämter.
Nach einer Stunde Biografie steht die große Frage im Raum. Wie hat sie das geschafft, was hat ihr geholfen nicht zu zerbrechen? Christa fasst es zusammen: „Menschen haben mich aufgefangen, in erster Linie mein Mann und die Natur gibt mir Kraft, wenn ich unten bin“. Und dann ist Arbeit noch ein wichtiger Punkt. Christa stürzt sich in die Arbeit, findet bis heute in ihr Erfüllung – nicht Vergessen. Vergessen kann sie nicht und es schmerzt immer noch, wenn sie an ihre Kinder denkt. Den Kontakt zu ihren Freunden pflegt sie heute sehr intensiv, raus in die Natur geht sie ständig. Bäume, Wiesen, Blumen, der Wind, ein Eichhörnchen – alles hilft, um Frieden zu finden. Und Christa liest viel und hat viel gelesen. Warum gerade sie? Warum gerade ihre Kinder, wo so viele ungewollt abgetrieben werden? Lebenskrisen – wie gehe ich damit um? Ein Patentrezept wie aus der Apotheke gibt es nicht an diesem Abend und so manche Frage an sie wird im persönlichen Gespräch gestellt. Doch für etliche wurde die Welt wieder ein bisschen gerade gerückt, sind die eigenen Probleme dahin gerutscht, wo sie eigentlich hingehören und für diejenigen, die mitten in der Krise stecken, ist die Hoffnung da. Hoffnung, dass man schwerste Schicksalsschläge überwinden kann und ein erfülltes Leben leben kann.
Im Saal gehen die Lichter aus. Auf jeden Besucher wartet ein kleines Geschenk. Und irgendwie strahlen die Lichter im Europa-Park ein wenig heller – für etliche Zuhörer dieses Abends. Und für Martin, einem 12jährigen Jungen, der in absehbarer Zeit Vollwaise sein wird und dem der komplette Erlös dieses Abends zugute kommt, denn alle Beteiligten arbeiten ehrenamtlich.